PlatonAristotelesEpikurSpinozaLockeKantHegelMarxAdornoMarcuseBloch

         Erinnyen Logo   logoerinnyenaktuell     

Erinnyen AktuellPhilosophieseiteSchuledialektik InternetkurseDialektikvereinBuchladenWeblog / TagebuchRedakteur privat


Startseite Logo
Aktuelles Logo
Ethik und Moral Logo
ideologiekritik Logo
Soziales Logo
Politik Logo
Öffentlichkeit
kultur kunst buttom
Rezensionen Button
Button Medienstartseite
Archiv Logo
Kontakt/Links Logo
Über uns Botton

NewsletterAnmelgung

RSS-Feed Botton

 

 

 

 

Ethik und Moral Titel

Bodo Gaßmann                                           Drucktext Button

September 2004   

    Wie viel Wert ist der Mensch?

Über das Fortschreiten der Euthanasie

 Inhalt:

EuthanasieDas Wertgesetz und die Arbeitskraft / Die Schranke der Verwertung des Menschen / Der moralische Aspekt / Die utilitaristische Legitimation der Euthanasie / Prinzipielle Kritik des Utilitarismus / Praktizierte Euthanasie in Deutschland / Praktizierte Euthanasie in Holland

Euthanasie

Anlass für diesen Versuch über Euthanasie ist die Tat eines Sonthofener Krankenpflegers, der zugegeben hat, zehn Patienten im Alter von 60 bis 89 Jahren ohne ihre Zustimmung durch Injektion eines Medikamentencocktails todgespritzt zu haben. Darunter waren auch Patienten, die auf dem Weg der Besserung waren. Diese Art der Euthanasie ist anscheinend nicht nur die zufällige Tat eines kriminellen Einzeltäters, wie ähnliche  Taten aus der Vergangenheit zeigen.

 „Euthanasie“ bedeutet wörtlich „schöner Tod“. Wie schön der Tod für ca. 70 behinderte Jugendliche 1944 in Hamburg war, kann man daran erkennen, dass sie sich mit Händen und Füßen wehrten, schrien und weinten, als sie ihren bevorstehenden schönen Tod erkannten. Es hat nichts genützt: einer nach dem anderen wurde durch ihre Wärter erhenkt. Nun ist die Bundesrepublik kein faschistischer Staat, rechtlich ist Euthanasie hier verboten. Die aktive Sterbehilfe, um die es mir in erster Linie geht, ist rechtlich nicht erlaubt, selbst wenn sie ausdrücklich auf das Verlangen eines Sterbenden oder Schwerkranken erfolgt. Außerordentlich umstritten ist dagegen das Abschalten lebensverlängernder Apparate oder Unterlassen entsprechender ärztlicher Maßnahmen, wenn die weitere Behandlung völlig aussichtslos ist oder der Patient unwiderruflich bewusstlos ist. Denn die meisten Krankenfälle sind nicht so eindeutig, wie die Formulierung „völlig aussichtslos“ aussagt. Nicht nur in diese Grauzone, sondern gegen jedes Verbot der Euthanasie schreibt eine Zunft von Utilitaristen an, deren oberstes Gebot „das Glück der größten Zahl“ ist (siehe unten).  Das Orientieren an den Interessen der Menschen und ihren materiellen Glücksgütern, sie sind im Utilitarismus gemeint mit „Glück“, verweist auf die Gesellschaft und ihre Ökonomie und konkret den Markt, der die Interessen lenkt und die Güter distributiert.

  Zurück zum Anfang

 Das Wertgesetz und die Arbeitskraft

 Die Verteilung der Waren auf dem Markt wird geregelt durch das Wertgesetz. Angebot und Nachfrage können zwar den Preis der Güter um ihren Wert variieren, im Durchschnitt aber entspricht der Preis seinem Wert – oder die Summe der Preise aller Waren ist ihr Wert. Geregelt wird der Wert in der kapitalistischen Marktwirtschaft durch das Wertgesetz. Dieses lautet: Je höher die Produktivität der Arbeit, die in eine Ware eingeht, um so niedriger ihr Wert, und umgekehrt. Das heißt, mit dem Ansteigen der Produktivität z.B. durch Automation sinkt der Wert der einzelnen Ware. Unproduktivere Arbeit als der Durchschnitt läuft Gefahr, ihre Ware auf dem Markt nicht mehr absetzen zu können, da deren Preis zu hoch ist. Dieses Gesetz wirkt sich blind hinter den Rücken der Produzenten aus und bestimmt die gesamte Ökonomie: Die Konkurrenz um Absatzmärkte wird also nicht nur auf dem Markt ausgetragen, sondern wesentlich schon in der Produktion der Waren.

Nun gibt es eine besondere Ware auf dem Markt: die Arbeitskraft. Ein Ökonom des 19. Jahrhunderts, gefragt, was der Mensch Wert sei, antwortete: Das, was er kostet. Der Mensch als Individuum ist zwar mehr als nur Arbeitskraft, aber für die Ökonomie zählt er zunächst nur als Arbeitskraft, d.h. seine Eigenschaft, produktive Arbeit für das Kapital zu verrichten, ein Mehrwert, also neues Kapital zu produzieren. Nach dem Wertgesetz hängt der Wert der Arbeitskraft von den Kosten ihrer Produktion ab. Die Arbeitskraft muss sich und ihre Familie ernähren und kleiden können, sie muss eine Wohnung haben, muss Kinder großziehen, damit das Kapital Rekruten bekommt, muss als fantasiebegabtes Lebewesen an der Kultur teilnehmen können, braucht gelegentlich einen Arzt – und muss nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess eine Altersversorgung bekommen. Gesamtgesellschaftlich gesehen, teilt sich der Neuwert, den die Lohnabhängigen eines Landes jährlich produzieren, auf in den Gewinn der Unternehmen und  in die Lohnkosten, die alles enthalten, was oben aufgezählt wurde – wie differenziert auch z.B. Kindergarten- und Schulkosten sowie Rentenbeiträge finanztechnisch eingenommen und verteilt werden. Da das Kapital als einzelnes wie als Gesamtkapital bestrebt ist, seine Kosten zu senken, um den Gewinn zu erhöhen, um Konkurrenzvorteile auf dem Markt zu erreichen, ist es auch bestrebt, die Kosten für die Ware Arbeitskraft zu senken. (Den gegenwärtigen „Sozialabbau“ kann jeder in der Zeitung verfolgen!) Eine Senkung der Kosten für die Arbeitskraft wäre auch erreicht, wenn die Menschen längere Zeit arbeiten würden, evtl. bis 67 Jahre, oder wenn sie früher stürben. Gerade im Alter sind die medizinischen Kosten besonders hoch, eine Euthanasie als aktive Sterbehilfe könnte diese Kosten drastisch senken. Warum soll man einem alten Menschen ein künstliches Hüftgelenk einsetzen, wenn er doch bald sterben wird, fragte vor kurzem ein CDU-Politiker.

Zurück zum Anfang

 Die Schranke der Verwertung des Menschen
 Die schrankenlose Durchsetzung der Reduktion von Kosten, die eine Arbeitskraft benötigt, wie sie im Faschismus praktiziert wurde, ist dysfunktional im hochentwickelten Kapitalinteresse. Schon Orwell hatte in seiner Erzählung „Animal Farm“ gezeigt, wie demoralisierend es sich auf die arbeitenden Tiere auswirkt, als das Pferd, der ehemals beste Arbeiter, statt in das verdiente Altenheim zum Abdecker gebracht wurde, weil sein Kadaver dadurch den Schweinen (Herrschende in der Fabel) noch Geld abwirft, anstatt dass sie für ein Altenheim hätten bezahlen müssen. Die Vernichtung durch Arbeit etwa im KZ-Auschwitz entsprach zwar der NS-Ideologie, nicht aber den Interessen der dort beteiligten Konzerne, die eine ständige Fluktuation und mangelnde Arbeitsfähigkeit bei den Häftlingen beklagten. Die Ausbeutung der Arbeitskraft hat physische Schranken, etwa das Schlafbedürfnis oder das Alter eines Menschen, und es gibt auch „moralische Schranken“. „Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind. Die Variation des Arbeitstages bewegt sich daher innerhalb physischer und sozialer Schranken. Beide Schranken sind aber sehr elastischer Natur und erlauben den größten Spielraum.“ (1)  Das Gleiche gilt auch für die Lebensarbeitszeit und die durchschnittliche Lebenserwartung, wobei letztere nicht nur von dem Stand der Medizin, sondern auch von den ökonomischen Bedingungen abhängt. Der Kampf für oder gegen Euthanasie ist ökonomisch betrachtet ein Klassenkampf um die Höhe der Lohnkosten. Dem Recht des Kapitals, soviel wie möglich aus den Lohnabhängigen herauszuholen, also auch die Lohnkosten zu senken, und das Recht der Arbeitenden, soviel wie möglich Lohn zu bekommen und die so genannten Lohnnebenkosten hoch zu halten, um sozial abgesichert zu sein, stehen sich in der kapitalistischen Marktwirtschaft gleichberechtigt gegenüber. Wer sich durchsetzt, entscheidet utilitaristisch die Gewalt in Gestalt des Klassenkampfes (auch wenn der sich am Verhandlungstisch zwischen Gewerkschaften und Kapitalfunktionären abspielt). Sind die Gewerkschaften schwach, weil es wie derzeit übermäßig viele Arbeitslose gibt, dann werden auch wieder die Gedanken an Euthanasie relevant, Holland macht derzeit in Europa den Vorreiter auf diesem Gebiet (siehe unten). 

 Zurück zum Anfang

 Der moralische Aspekt

 Die bürgerliche Emanzipation vom Feudalsystem führte zu Anerkennung aller Menschen als Personen, die frei und rechtlich gleich sind. Nur auf diesen sozialen Boden konnte eine Moralphilosophie entstehen, die den Wert des Menschen absolut setzt. So sagt Kant: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle  kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.   Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.i. Würde.“ (2)  Da Personen als rechtlich gleiche nicht nur unter den Gesetzen stehen, sondern die Gesetze sich auch selbst geben, entsprechend dem mit der Gleichheit verbundenen Prinzip der Volkssouveränität, können sie  - auch allgemein als Menschen mit der Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen – nicht zum bloßen Mittel von irgendwem oder irgendwas herabgesetzt werden. So lautet Kants kategorischer Imperativ bekanntlich: „(...) vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals  bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“ (3)  Dieser kategorische Imperativ als oberstes Moralgesetz ist pragmatisch wie metaphysisch begründet. Die pragmatische Begründung verweist auf die Gegenseitigkeit. Seine metaphysische Begründung gründet in der Annahme eines intelligiblen Substrats. Karl Heinz Haag hat diesen Kantischen Gedanken aktualisiert: „Positiv bestimmbar an stofflichen Dingen ist einzig ihr funktionales Verhalten – aber nicht das, worin sie ontologisch gründen: das Prinzip ihrer Genesis. Ihm gegenüber haben die von den physikalischen Wissenschaften erkannten Gesetze nur partikuläre Bedeutung: wie die stofflichen Prozesse, die ihnen gehorchen, sind sie bloße Mittel zur Hervorbringung des totum – einer res naturalis. Erst die Koordination einer Reihe ganz bestimmter Naturgesetze führt zu Wirklichem. Solcher Koordination sind sie selbst nicht mächtig: keines von ihnen impliziert eine Beziehung auf das Ding, bei dessen Genesis sie mitwirken. Bezogen auf ein Telos kann ein Prozesse steuerndes Prinzip nur sein, wenn es das Ziel virtuell in sich enthält. Insofern muß jenes Prinzip mehr besagen als die Summe der Gesetze, die es auf ein bestimmtes Telos hin koordiniert. Als die gestaltende Form stofflicher Dinge gehört es einer anderen Dimension an: dem für menschliches Erkennen begrifflich nicht fixierbaren Bereich des intelligiblen Ansichseins von Welt. Diese negative Seite an metaphysischer Erkenntnis läßt Metaphysik nur als negative Metaphysik zu.“ (4)   Erst wenn man zugesteht, dass der Mensch (auch als stoffliches Ding) nicht der beliebigen Verfügbarkeit unterliegen darf, sondern auf Grund seines intelligiblen Ansichseins und seiner Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, mehr ist, als die Naturwissenschaften, die auf Herrschaft über Naturphänomene gehen, an ihm konstatieren können, ist er in seiner Würde begründet. Der Rechtfertigung der Euthanasie wird dadurch der argumentative Boden unter den Füßen entzogen. Wenn der Mensch immer auch als Zweck an sich selbst anzusehen und zu behandeln ist und dies sich nicht nur pragmatisch oder utilitaristisch begründen lässt, sondern auch metaphysisch wie in der negativen Metaphysik, die auf Kant zurückgeht, dann gibt es keine moralische Begründung für die Euthanasie, sie ist unmoralisch. Kant hat am Beispiel des Selbstmordes die Tötung von Menschen durch sich oder andere Menschen kritisiert. (5)  Wenn ich mich auf Grund einer freien Willensentscheidung selbst töte, dann mache ich sowohl meinen Körper wie mein Bewusstsein oder Selbst einschließlich meiner Würde usw. absolut, d.h. hier unwiederbringlich, zum bloßen Mittel – das aber ist absolut unmoralisch. Es gibt in der Kantischen Moralphilosophie kein einziges Argument, dass die Euthanasie rechtfertigen könnte. Wenn aber von Moralphilosophie gesprochen wird, ist die Auseinandersetzung mit der Kantischen immer noch der nicht hintergehbare Stand der avancierten Vernunft. (6)

  Zurück zum Anfang

   Die Schranken Kants liegen in einer unzureichenden Reflexion der Bedingungen zur Durchsetzung des Moralgesetzes. Die im 18. und 19. Jahrhundert neu entstehende Arbeiterklasse bzw. die Klasse der Lohnabhängigen überhaupt ist nicht nur rechtlich frei wie ihr Gegenüber, die Eigner der Produktionsmittel, sie ist auch frei von Eigentum an diesen Produktionsmitteln, und dadurch sind die Mitglieder dieser Kasse ökonomisch gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und dadurch abhängig, sich einer Produktionsweise zu unterwerfen, die sie tendenziell zum bloßen Mittel macht. „Der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur hört für die bürgerliche Ökonomie auf, etwas zu sein, dem ein Sinn an sich zukäme. Er wird zu einer Funktion der Kapitalvermehrung. (...) In diesem Kontinuum der steten Ausweitung von Produktion und Konsumtion sinkt die seiende Natur immer mehr herab zum Objekt der allgemeinen und planmäßigen Exploitation. Pragmatisch wie zur Natur verhält sich das Kapital auch zu allem, was im Bereich der Kultur seiner Tendenz auf ständige Vermehrung entgegensteht. Zersetzt werden alle Formen menschlichen Lebens, die eine Hemmung bedeuten für Ertragssteigerungen mittels gesteigerter Produktivkräfte und erweiterter Bedürfnisse. Die Menschen sollen auch selber nur das noch sein, was sie produzieren: Waren, das heißt ‚geeignet’ und austauschbar. Ihre erste Natur wird einer zweiten, gesellschaftlichen unterworfen. Je mehr das gelingt, um so unmittelbarer erscheint die entsubstantialisierte Welt der Ökonomie als die einzig existierende Welt.“ (7)  War zu Marx Zeit der Kampf um die Länge des Arbeitstages ein Mittel für die Arbeitenden, auch ihre kulturellen Bedürfnisse auszuweiten, an den kulturellen Erzeugnissen der bürgerlichen Kultur zu partizipieren, so sind heute selbst die menschlichen Bedürfnisse Gegenstand der Ausbeutung. Dass der Mensch absoluten Wert habe, gar ein intelligibles Substrat inhäriere, das metaphysisch seine Selbstzweckhaftigkeit begründe, erscheint im Konzert der öffentlichen Meinung als eine überdrehte Meinung unter anderen, etwa so als wäre Rot besser als Blau, die evangelische Kirche besser als die katholische, Wooduzauber besser als Allahglaube. In diese vorherrschende Beliebigkeit stößt die utilitaristische Legitimation der Euthanasie hinein.

 Zurück zum Anfang

 Die utilitaristische Legitimation der Euthanasie

 Der Wortführer des Euthanasiegedankens ist zweifellos Peter Singer. Er sagt, „haben wir jene Lehren von der Heiligkeit des menschlichen Lebens erst einmal aufgegeben, die – wie wir im Kapitel 4 sahen – in sich zusammenfallen, sobald sie hinterfragt werden, dann kann gerade die Weigerung, Tötungen zu akzeptieren, in manchen Fällen schreckliche Folgen haben.“ (8)  Da Singer empiristisch vorgeht, kann er nur zu einer utilitaristischen Ethik kommen. Da der Empirismus metaphysische Bestimmungen ablehnt, kann er auch seine eigenen metaphysischen Prämissen nicht mehr reflektieren. So ist sein einziges Argument gegen die „Heiligkeit“ (rational: moralische Unantastbarkeit) des menschlichen Lebens die Tatsache, dass die „Konservativen“ diesen Gedanken „nur mehr zögernd ins Gespräch bringen“ (9). Konsequent spricht er dem Fötus und den todkranken Menschen den Wert ihres Lebens ab. „Die biologischen Fakten, an die unsere Spezies gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung. Dem Leben eines Wesens bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil es als Lebewesen unserer Spezies angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören.“ (10)  Damit wäre die spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier beseitigt, nur Personen, also rechtsfähige Menschen, die einen freien Willen hätten oder ihn doch erwarten ließen wie gesunde Kinder, hätten einen gesellschaftlichen Schutz, dass sie nicht getötet werden, bei allen anderen stünde kein prinzipielles Hindernis entgegen, die Euthanasie anzuwenden. Konsequent spricht er dem Fötus, den Todkranken und den geistig Unmündigen den Wert ihres Lebens ab. „Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewußtseins, der Bewußtheit, der Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person.“ (11)  „Die Beendigung eines Lebens ohne vorherige Zustimmung kann nun aber auch im Falle derer in Erwägung gezogen werden, die einmal Personen und fähig waren, zwischen Leben und Tod zu wählen, doch jetzt, durch Unfall oder hohes Alter, diese Fähigkeit für immer verloren und vor dem Verlust dieser Fähigkeit keinerlei Ansichten darüber geäußert haben, ob sie unter diesen Umständen weiterleben wollten. (...)  In den meisten Hinsichten unterscheiden sich diese Menschen nur unerheblich von behinderten Säuglingen. Sie sind nicht selbstbewußt, rational oder autonom, und so sind Erwägungen des Rechts auf Leben oder des Respekts vor der Autonomie hier nicht angebracht. Wenn sie überhaupt keine Erlebnisse haben und auch niemals mehr welche haben können, dann hat ihr Leben keinen Wert an sich.“ (12)  Damit nähert sich Singer der Rechtfertigung der faschistischen Euthanasie an Geisteskranken von 1938 bis 1945, die ebenfalls utilitaristisch begründet wurden. „Diese utilitaristische Argumentation findet sich in zahlreichen Dokumenten und Zeugenaussagen wieder: Im Mittelpunkt des ersten systematischen NS-Massenmords stand die Definition der ökonomischen ‚Nützlichkeit’ eines Menschen. Eben deshalb mußten auf dem Fragebogen – an Hand dessen dann über Leben und Tod entschieden wurde – genaue Angaben über die Arbeitsfähigkeit gemacht werden. Die Ärzte hatten die Patienten anzugeben, die voraussichtlich nie entlassen würden und die zudem nicht so viel arbeiten, daß dies auf ihre Verpflegung in Anrechnung gebracht werden könnte’. (...) Ausgehend vom Tagesbedarf eines Anstaltsinsassen ergab diese Rechnung, daß durch die Tötung der nicht arbeitsfähigen Kranken – Brandt bezeichnete das als ‚Leistung’ – bis 1951 mehr als 880 Millionen Reichsmark an sozusagen ‚toten Kosten’ eingespart würden.“ (13)  Neben den spontanen moralischen Impuls, der diesen Massenmord verabscheut, muss konsequentes Denken die Ethik des Utilitarismus selbst widerlegen, will sie ihrem Anspruch auf rationale Argumentation gerecht werden und dem vorherrschenden Utilitarismus, den es auch in harmloseren Varianten gibt, als Ideologie entlarven.

  Zurück zum Anfang

 Prinzipielle Kritik des Utilitarismus

 Für den durchschnittlichen Intellektuellen gibt es heute nur eine Philosophie, die des Empirismus oder Positivismus, wie die heutige Gestalt sich nennt. In diesem gibt es ontologisch nur Einzeldinge, aber keine Wesensbestimmungen in den Dingen. Da man nicht herumkommt, allgemeine Bestimmungen anzunehmen, können diese nur Merkmale sein, die subjektiv zusammengefasst sein sollen. Obwohl der Empirismus/Positivismus metaphysische Bestimmungen (nicht-empirische) leugnet, enthält er unreflektiert selbst Metaphysik wie z.B. die Geltung der Logik und die Behauptung, es gäbe real nur Einzeldinge. Entsprechend dieser Lehre ist der Mensch auch nur ein Klumpen Biomasse, solange er nicht oder nicht mehr Person (mit erkennbarem freien Willen) ist. Entsprechend dieser Philosophie gibt es auch kein fundamentum in re für irgendeine Moral. Konsequent hatte schon Hobbes gefordert, da es nicht ohne Moral gehe, der absolute Monarch solle kraft seines Gewaltmonopols die Moral festsetzen. Dagegen postuliert der Utilitarismus das, was sowieso alle wollen, nämlich ihre Triebe, Bedürfnisse, Wünsche und Interessen auszuleben und durchzusetzen, als Grund der Moral. Reflektierte Varianten des Utilitarismus beziehen die Wünsche anderer Menschen in ihre Handlungskalkulation ein, so etwa  wenn J.St. Mill u.a. als oberstes Ziel der Moral „das größte Glück der größten Zahl“ postuliert. (Wenn z.B. im 19. Jahrhundert mehrere Millionen Briten gern Tee trinken als einen Aspekt ihres Glücks, dann kann die Regierung schon mal ein paar Tausend Soldaten opfern, um die Teeproduktion in ihrer Kolonie Indien zu sichern.) Der egoistische Utilitarismus wie der von Singer geht vorwiegend nur vom Individuum aus. „Zwei Geschäftsleute, die bei einem wichtigen Verkauf konkurrieren, erkennen ihr Verhalten gegenseitig als rational an, obwohl jeder bestrebt ist, dem anderen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Dasselbe trifft auf zwei Soldaten zu, die sich in der Schlacht begegnen, oder auf zwei Fußballspieler, die um den Ball kämpfen.
Dementsprechend scheitert dieser Versuch zu zeigen, daß eine Verbindung zwischen Vernunft und Ethik besteht. Es mag andere Möglichkeiten geben, diese Verbindung herzustellen, aber es läßt sich kaum eine erkennen, die in höherem Maße Erfolg verspricht. Das Haupthindernis, das es zu überwinden gilt, ist die Natur der praktischen Vernunft. Vor langer Zeit hat David Hume geltend gemacht, daß Vernunft im Handeln sich lediglich auf Mittel und nicht auf Zwecke bezieht. Die Zwecke müssen durch das gegeben sein, was wir wollen und wünschen. (...) ‚Es widerspricht nicht der Vernunft, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als eine Schramme an meinem Finger.’ (...)  Humes Ansicht über die praktische Vernunft, mag sie noch so extrem sein, hat der Kritik bemerkenswert gut standgehalten. Seine zentrale Behauptung – daß wir im praktischen Denken von etwas Gewolltem ausgehen – läßt sich kaum widerlegen.“ (14)  Vorausgesetzt wird sowohl in der gesellschaftlichen wie der egoistischen Variante des Utilitarismus, dass die Gesellschaft zusammenhält, obwohl die Wünsche und Interessen, die immer nur partikular sind und deshalb einander widerstreiten, wie auch Singers Beispiel verdeutlicht, die Gesellschaft eigentlich sprengen müssten. Tatsächlich steht aber über dem Utilitarismus der Markt, der mit seinem Mechanismus die widerstreitenden Interessen vermittelt. So sagt Adam Smith: „Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Bauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern von der Rücksichtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Menschenliebe, sondern an ihr Selbstinteresse und sprechen zu ihnen nie von unserem Bedarf, sondern von ihren Vorteilen. (...) Stets sind alle Menschen darauf bedacht, die für sie vorteilhafteste Anlage ihrer Kapitalien ausfindig zu machen. In der Tat hat jeder dabei nur seinen eigenen Vorteil, nicht aber das Wohl der gesamten Volkswirtschaft im Auge. Aber dieses Erpichtsein auf seinen eigenen Vorteil führt ihn ganz von selbst – oder besser gesagt – notwendigerweise dazu, derjenigen Kapitalanlage den Vorzug zu geben, die zu gleicher Zeit für die Volkswirtschaft als Ganzes am vorteilhaftesten ist.“ (15)  Dieser Idealisierung des Marktes als harmonischer Vermittler der Einzelinteressen ist zunächst entgegenzuhalten, dass nur wenige Kapital einsetzen können, dass die überwiegende Mehrheit als einziges „Kapital“ nur ihre Arbeitskraft hat, mit der sie handeln können. Weiter ist die Vermittlungsfunktion des Marktes nur durch permanente Konjunkturschwankungen und Krisen möglich, die in der Regel die Nichtbesitzenden am schwersten treffen – also das Gegenteil einer Harmonie. Die Vermittlung der konkurrierenden Interessen durch den Markt ist deshalb auch keine von den Individuen gewollte Vermittlung, sondern ein entfremdeter, d.h. von den Wirtschaftssubjekten nicht beherrschbarer Mechanismus. Karl Marx kritisiert die harmonischen Vorstellungen vom Markt als Regulator, weil das Subjekt des Marktes nicht Menschen sind, sondern die unbeherrschbaren Gesetze der Kapitalproduktion wie das Wertgesetz. Die scheinbare Freiheit, seine Wünsche und Interessen durchzusetzen, erweist sich als Schein. „Daher (...) die Abgeschmacktheit, die freie Konkurrenz als die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten; und Negation der freien Konkurrenz = Negation individueller Freiheit und auf Freiheit gegründeter gesellschaftlicher Produktion. Es ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen. (...) Wenn es heißt, daß innerhalb der freien Konkurrenz die Individuen, rein ihrem Privatinteresse folgend, das gemeinschaftliche oder rather (vielmehr) allgemeine Interesse verwirklichen, so heißt das nichts, als daß sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion aufeinander pressen und daher ihr Gegenstoß selbst nur die Wiedererzeugung der Bedingungen ist, unter denen diese Wechselwirkung stattfindet.“ (16)  Wenn die Menschen alle nach ihren unmittelbaren Interessen handeln, und sie müssen dies, um in der kapitalistischen Ökonomie überleben zu können, dann setzen sich in diesem Konzert widerstreitender Interessen letztlich die Mechanismen der Ökonomie wie das Wertgesetz durch. Das aber tendiert zur Reduktion der Lohnkosten und dadurch auch zur Euthanasie. Der Utilitarismus von Singer und Konsorten erweist sich als falsches Bewusstsein, das der Herrschaftssicherung der entfremdeten unbeherrschbaren Gesetze der Kapitalproduktion dient. Es ist eine falsche Philosophie, die Scheingründe für eine negative gesellschaftliche Tendenz liefert. Es ist ein verkehrtes Weltbewusstsein, das eine verkehrte Welt bewahren will. Denn im Konzert der Interessen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gibt es auch ein Interesse an der Abschaffung dieser Produktionsweise, ein Interesse, das allererst eine Welt hervorbringen könnte, die nicht mehr die Tendenz zur Enthumanisierung durch Euthanasie in sich trägt. Tatsächlich aber heizen die Utilitaristen die Stimmung für ihr schönes Töten an.

Zurück zum Anfang

Praktizierte Euthanasie in Deutschland

 Eine beliebte Gräuelpropaganda utilitaristischer Ideologen für die Euthanasie, die auch bereits bei den Nazis angewandt wurde, um eine breite Zustimmung in der Bevölkerung zu erreichen, ist die Darstellung von schrecklichen Fällen. So schreibt James Rachels: „Da bietet sich zunächst die typische Situation eines Patienten mit unheilbarem Kehlkopfkrebs an. Der Patient, von schrecklichen und durch nichts mehr zu lindernden Schmerzen gequält, wird trotz Weiterbehandlung mit Sicherheit binnen weniger Tage sterben. Doch gerade wegen seiner unerträglichen Schmerzen will er nicht einmal diese ihm noch verbleibende Frist mehr erleben und bittet deshalb im Einvernehmen mit seiner Familie den Arzt, all dem ein Ende zu machen.“ (17)  Nun plädiert James Rachels in diesem Fall nicht nur auf die Einstellung der Behandlung und die Verabreichung schmerzbekämpfender Mittel, sondern macht den Fall zur utilitaristischen Kalkulation des Todes, ohne auf Alternativen einzugehen. Und das alles, um die Euthanasie als aktive Sterbehilfe zu rechtfertigen. „Stellt man die Behandlung einfach ein, dann kann sich das Sterben des Patienten noch hinauszögern, so daß er also mehr leiden müßte, als wenn sich der Arzt sofort zu direktem Handeln entschlösse und ihm eine tödliche Spritze gäbe. Diese Tatsache legt den Schluß nahe, daß aufgrund der einmal getroffenen Entscheidung, das Leiden nicht zu verlängern, die aktive Sterbehilfe in der Tat der passiven vorzuziehen ist, nicht aber umgekehrt.“ (18) Wenn solche Texte die Diskussion bestimmen und religiöse Gedanken keinen Glauben mehr finden, weil sie spätestens seit der Aufklärung theoretisch tot sind, ist es kein Wunder, dass Krankenhauspersonal, das mit dieser Problematik ständig konfrontiert ist, solche Argumente aufgreift und handelt. Der eingangs erwähnte Fall eines Krankenpflegers aus Sonthofen gehört dazu. Bei ihm wurde der Utilitarismus von Singer und Konsorten praktisch – wenn auch illegal. Er hatte sechs Frauen und vier Männer zu Tode gespritzt, die er für nicht lebenswert erachtete. Die Kemptener Staatsanwaltschaft will inzwischen über 60 weitere alte Menschen exhumieren lassen, die im Zusammenhang mit dem Krankenpfleger zu Tode kamen. Er hatte ausgesagt, nur die Fälle zugegeben zu haben, bei denen er sich an den Namen erinnern konnte. Seine Tat führte er aus mit einem Medikamentenmix, den er im Krankenhaus gestohlen hatte. Erst dadurch ist die Kripo auf seine Taten gestoßen. Der gestohlene Medikamentencocktail soll ausgereicht haben, mindestens 20 Menschen zu ermorden. Als Motiv gab der 25jährige Mann an, er habe das Leid der „dahinsiechenden“ Menschen nicht mehr ertragen. Anlass für seine Tötungen waren wohl regelmäßig Äußerungen von vorgesetzten Ärzten, sich dieser Patienten besonders anzunehmen. Dass darunter auch Patienten waren, die sich auf dem Wege der Besserung befanden, störte den Pfleger anscheinend nicht. (19)  Heute, am 9. August 2004, meldet die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ unter der reißerischen Überschrift „’2400 Morde pro Jahr bleiben unentdeckt’“, dass nach den Todesfällen von Sonthofen die Rechtsmediziner fordern,  mehr Obduktionen zu genehmigen und bessere Standards einzurichten. „Zur frühzeitigen Aufdeckung solcher Fälle forderte Brysch (Geschäftsführer der Deutschen Hospizstiftung, B.G.) die Pflegeteams über Täterprofile aufzuklären. Demnach seien die Täter meist männlich, isolierten sich vom Team und hätten auch privat kaum Kontakte. Hinzu komme oft eine indirekte Ankündigung der Tat nach dem Motto ‚Der in Zimmer 20 macht es auch nicht mehr lange.’“ (20)  Anscheinend sind die Taten des Sonthofener Pflegers keine Einzelfälle, auch wenn ein Aufsichtsrat der Klinik ihn beschwichtigend als „hochkriminellen Einzeltäter" bezeichnete. Er agierte in einem geistigen Klima, das Euthanasie wieder salonfähig machen will. Kommt dann noch die perennierende Diskussion über die Gesundheitskosten hinzu, dann sind solche Taten wie die des Krankenpflegers fast unvermeidlich. Dennoch muss man konstatieren, dass Euthanasie als aktive Sterbehilfe in der BRD noch verboten ist, noch handelte der Krankenpfleger kriminell und er wird wahrscheinlich wegen Totschlags verurteilt. Anders wird die Euthanasie bereits in unserem Nachbarstaat Holland gehandhabt. Dort hat man weniger Hemmungen die utilitaristische instrumentelle Vernunft sich am Krankenbett austoben zu lassen und dem „sozialverträglichen Frühableben“ das Wort zu reden.

  Zurück zum Anfang

 Praktizierte Euthanasie in Holland

 In den Niederlanden ist Euthanasie als aktive Sterbehilfe gesetzlich erlaubt. Dafür wurden Richtlinien entwickelt, die eine Durchführung der Euthanasie legal erscheinen lassen. Sie wird akzeptiert, „wenn

-         sie von einem Arzt geleistet wird,
-         der Patient ausdrücklich um Sterbehilfe ersucht hat,

         und zwar in einer Weise, die am Wunsch des Patienten keinen Zweifel läßt;
-         die Entscheidung des Patienten nach gründlicher Information erfolgt und frei und dauerhaft ist;
-         der Patient in einem unrettbaren Zustand ist, der es mit sich bringt, daß das körperliche und seelische Leiden in die Länge gezogen und damit für den Patienten unerträglich wird;
-         keine vernünftige Alternative (vom Standpunkt des Patienten aus) vorhanden ist, um das Leiden des Patienten zu lindern;
-         der Arzt einen unabhängigen Kollegen konsultierte hat, der seinem Urteil zustimmt.“ (21)

 Dies ist das Ideal, wie es bei Singer 1993 wiedergegeben wird. Er kommentiert diese Richtlinien interessengeleitet mit dem Satz: „Die Richtlinien lassen Mord unter dem Deckmantel der Euthanasie ziemlich abwegig erscheinen.“ (22)

 Doch diese Richtlinien sind weitgehend Makulatur, wie Erich Wiedermann im „Spiegel“ (23) berichtet. Eine Umfrage führte zu dem Resümee: „In den Niederlanden werde unter dem Deckmantel der Euthanasie ‚rechtswidrig getötet oder ermordet’.“ (24)  Wegen der Häufung von illegalen Tötungen überprüfen seit 2002 Regionalkommissionen (ein Arzt, ein Jurist, ein Ethiker) die gemeldeten Euthanasiefälle. Deren durchschnittliche Prüfdauer von vier Minuten pro Fall hat denn auch zum Ergebnis, dass noch nie an einem Fall Anstoß  genommen wurde. Die einzig existierende Statistik stammt von 1990. Danach „füllte 1990 nur eine Minderheit der Ärzte, die Euthanasie betrieben, ihre Totenscheine wahrheitsgemäß aus. Im Berichtsjahr wurden in Holland 3300 Menschen durch Injektionen oder durch Überdosen von Medikamenten, also aktiv, getötet, davon etwa ein Drittel ohne ihre Einwilligung und ohne Wissen der Angehörigen.  Dazu kamen mehrere tausend Patienten, die, ohne darum gebeten zu haben, durch passive Sterbehilfe, zum Beispiel durch die Absetzung lebensrettender Medikamente, umkamen. Keineswegs nur hoffnungslose Fälle, sondern auch solche, denen die Ärzte mindere Lebensqualität für den Fall ihres Weiterlebens attestiert hatten.  Insgesamt war laut ‚Remmelink Report’ in fast 20 000 von 130 000 Todesfällen der Tod nicht auf natürliche Weise eingetreten, sondern durch ‚medizinische Entscheidungen’ herbeigeführt worden.“ (25)  Vor dem Gesetz ist die Tötung von Patienten ohne deren Einwilligung auch weiterhin Mord oder Totschlag, aber bisher ist noch kein Arzt deswegen angezeigt oder verurteilt worden, obwohl es massenhaft geschieht. „Auch in den Niederlanden ist es verboten, einen Erbonkel vom Hausarzt umbringen zu lassen, weil die Hypothek fürs Eigenheim fällig wird. Wer es trotzdem tut, riskiert  aber nicht viel. Einfach weil der Gesetzgeber sich von der fälschlichen Annahme leiten lässt, dass Ärzte ihre Lizenz zum Töten nur im Einklang mit dem Gesetz ausüben.“ (26)  Selbst Jugendlichen ist ein Recht auf assistierten Selbstmord gestattet, „im Alter unter 16 Jahren brauchen sie aber die Zustimmung ihrer Eltern“ (27)  Die Euthanasie hat in Holland viele Befürworter, charakteristischer Weise unter den jüngeren Leuten, denn sie sind noch fit im Konkurrenzkampf. Die älteren Leute sind meist gegen die Euthanasie, weil sie unter dem Risiko leben, wenn sie in ein Krankenhaus oder zu ihrem Hausarzt gehen, ungefragt umgebracht zu werden. Viele tragen eine Credo Card bei sich oder einfach nur einen Zettel, auf dem steht: „Maak mij niet dood, Dokter.“ Damit alte Leute der Euthanasie doch noch zustimmen, wird mit schmerzstillenden Mitteln gegeizt. „Die Alten wägen ab. Bei Umfragen unter Krebspatienten, die nicht mehr so weit vom Tod entfernt sind, hat die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin fast gar keine Befürworter gefunden. Todgeweihte, die von qualifizierten Schmerztherapeuten betreut werden, reklamieren viel seltener für sich das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Sie haben erfahren, dass es durchaus Alternativen gibt.“ (28)

Zurück zum Anfang

Die sozialdarwinistischen Zustände, der Massenmord an Alten und Kranken auf Grund der „Verwilderung der Ethik“ (29), wie Erich Wiedemann sagt, bestätigen die Mechanismen einer Gesellschaft mit ihrer Ökonomie, wie ich sie oben analysiert habe. „Der allgemeine Trend geht aber zum ‚sozialverträglichen Frühableben’, wie es Karsten Vilmar, der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer, ironisch genannt hat. Der holländische Generationenvertrag ist ebenso zerrüttet wie der deutsche. Im letzten Lebensjahr fallen auch in Holland etwa 30 Prozent der Kosten an, die ein Mensch in seinem Leben für die Gesundheit aufwenden muss. Die bröckelnden Sozialsysteme wären leicht zu sanieren, wenn man die Euthanasiebestimmungen den Bedürfnissen der Solidargemeinschaft anpassen würde. Und das ist mehr als eine abstrakte Idee.“ (30)  Zwar sind in Deutschland die Ärzteverbände noch gegen die Euthanasie als aktive Sterbehilfe, doch auch hier wird die Tendenz stärker, den letzten Lebensabschnitt der Menschen den Versicherungsmathematikern zu überlassen.

 Die Schranke der Verwertung des Menschen ist im Kapitalismus variabel. So wurde im Faschismus und den beiden Weltkriegen mit dem Tod von Millionen kalkuliert. Diese Schranke ist auch Resultat des Klassenkampfes, auch wenn in den untersten Schichten der Lohnabhängigen wohl die meisten Befürworter der Euthanasie in der Bevölkerung existieren. Der Wert des Menschen im Kapitalismus ist allein ökonomisch bestimmt, die physische und moralische Schranke seiner Verwertung ist fragil, Euthanasie kann sowohl möglich werden wie verboten bleiben, es liegt an den Menschen, ob sie ihr intelligibles Substrat zur Kenntnis nehmen und sich als Zweck an sich selbst ansehen und dadurch einen absoluten Wert zusprechen oder ob sie sich völlig zum instrumentum vocal  des Kapitals machen lassen, denen selbst der Tod verordnet wird. Der Grad der Humanität einer Gesellschaft lässt sich daran erkennen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, mit den Kindern und den Alten. Insofern hat Holland mit der Freigabe der Euthanasie einen Schritt zur Dehumanisierung gemacht. Deutschland ist der vorherrschenden Tendenz nach auch auf den Wege dorthin. Prinzipiell lässt sich das Problem nur lösen, wenn man gesellschaftliche Bedingungen errichtet, die den Zweck haben, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und die nicht der Produktion von akkumulierbaren Mehrwert dienen.  

Zurück zum Anfang
  

Anmerkungen

      (1)    Karl Marx: Das Kapital, Band I, in: MEW 23, S. 246.
(2)    Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ffm.  1974, S. 68 (BA78).
(3)    A.a.O., S. 66 (BA 74 f.)
(4)    Karl Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie, Ffm. 1983, S. 11 f.
(5)    Vgl. a.a.O., S. 52 (BA 53 f.)
(6)    Interessant ist, dass in einem populären Sammelband bei Reclam: Medizin und Ethik. Herausgegeben von Hans-Martin Sass, Stuttgart 1994, in den Literaturverzeichnissen der Befürworter wie der Gegner der Euthanasie Kant überhaupt nicht vorkommt. Auch beim Euthanasie-Papst Peter Singer wird Kant eher als Popanz aufgebaut und entsprechend nebenbei erledigt.
(7)    Haag, a.a.O., s. 179 f.
(8)    Peter Singer: Praktische Ethik. Neuausgabe. Aus dem Englischen übersetzt von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose, Stuttgart 1994. 2. revidierte und erweiterte Auflage. S. 224.
(9)    A.a.O., S. 196.
(10)A.a.O., S. 121. In dem Zitat steckt noch die besondere Ranküne Singers, den Gegnern der Euthanasie Rassismus zu unterstellen. Das ist kruder Biologismus.
(11)A.a.O., S- 197.
(12)A.a.O., S. 244 f.
(13)Götz Aly; Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991, S. 268 f.
(14)Singer, a.a.O., S. 405 f.
(15)Adam Smith, zitiert nach: F.Büchse/J.B.Walz: Industrialisierung und sozialer Wandel, Hannover 1979, S. 34 f.
(16)Karl Marx: Grundrisse, in: MEW 42, S. 551 f.
(17)James Rachels: Aktive und passiver Sterbehilfe, in: Medizin und Ethik, a.a.O., S. 254 f.
(18)A.a.O., S. 255. Selbstverständlich ist es vorstellbar, dass ein extrem leidender und unheilbarer Patient sich selbst tötet, indem er z.B. zwischen einer allgemeingültigen Moral und seinen Leiden abwägt, und sich pragmatisch für die unmoralische Selbsttötung entscheidet. Aber einem Arzt, der ihn dabei aktiv unterstützt, könnte der Verstoß gegen die Moral, wenn man so will, gegen sein Standesethos, nicht verziehen werden. Er setzte sich dadurch den Verdacht aus, statt seine Patienten zu heilen, ihren Tod herbeizuführen. Denn wer kann sagen, ob eine Linderung der Schmerzen oder gar Heilung nicht doch möglich ist. Das Individuum ist nicht dasselbe wie der Lehrbuchtext des Mediziners.
(19)Vgl. die Meldungen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) vom 3.8.04, S. 8 und vom 7.8.04.
(20)HAZ, v. 9.8.04, S. 6.
(21)Singer, a.a.O., S. 251.
(22)A.a.O.
(23)Erich Wiedermann: Der Gedanke des Tötens, in: Der Spiegel, Nr. 30 v. 19.7.04, S. 86 – 88.
(24)A.a.O., S. 87.
(25)A.a.O., s. 87 f.
(26)A.a.O., S. 87.
(27)A.a.O., S. 87.
(28)A.a.O., s. 88.
(29)A.a.O., S. 87.
(30)A.a.O., S. 88.  

Zurück zum Anfang                                Zurück zur Übersicht

divider

Geben Sie uns Ihre Meinung

 


Datum

Volltextsuche in:
Erinnyen Aktuell

Weblog

Hauptseite (zserinnyen)

Erinnyen Nr. 16


What's new powered by crawl-it


Aktuelle Nachrichten
der Argentur ddp:
Buttom Newsticker 
Button Kultur
Buttom Wissenschaft
Politik Button

Wenn Sie beim Surfen Musikt hören wollen:
Logo Radio


 

 

Weitere Internetseiten und unsere Internetpräsenz im Detail:

Archiv Logo

 

Audios, Fotos und Videos:

Medienseite Logo

Die letzten Ausgaben der Erinnyen können Sie kostenlos einsehen oder herunterladen:

Abildung Titel Erinnyen Nr. 15

Erinnyen Nr. 16 Titelbild

Erinnyen Nr. 17 Titelbild

 

Erinnyen Nr. 18
Erinnyen Nr. 18

logoNr. 19

Erinnyen20Logo

Logo Erinnyen Nr. 21

 

Nachrichten aus dem beschädigten Leben:

Tagebuch Weblog

Unsere Zeitschrift für materialistische Ethik:
Zeitschrift für materialistische Ethik Erinnyen

Unsere Internetkurse zur Einführung in die Philosophie:
Schuledialektik

Unsere Selbstdarstellung in Englisch:
Englische Seite

Die Privatseite unseres Redakteurs und Vereinsvorsitzenden:
Redakteur B. Gassmann

Unser Internetbuchladen:

Erinnyen Nr. 9 Bild

Ethiktiel Abbildung

Logiktitel Bild

 

EditRegion3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

© Copyright: Alle Rechte liegen bei den Erinnyen. Genaueres siehe Impressum.

Letzte Aktualisierung:  02.09.2010

                                                                                     
bbbbaaa